Frühlicht, Dämmerung

HUGO SUTER

03.06.2005 – 21.08.2005

Ausstellungsansicht Galerie DKM
Foto: Werner J. Hannappel

Verdinglichte Zeit

Hugo Suter arbeitet mit verschiedenen Mitteln, er malt, zeichnet, macht Objekte (die er manchmal «Malerei» nennt), fotografiert, arbeitet viel mit Glas… Dabei geht es vor allem um eines: die Weise auszunützen, wie wir Dinge wahrnehmen, und wie wir ihnen, indem wir sie wahrnehmen, Sinn verleihen.

Hugo Suter legt viele Werke als Aktualisierung von Regeln an, wie ein Spieler seine Partien. Ein wirklicher Spieler wie es Marcel Duchamp im Schach war, ist nicht als erstes darauf aus, den anderen zu schlagen, sondern darauf, in dem er spielt, die Regeln zu untersuchen (Das Schlagen hält die Maschinerie in Gang, nicht mehr.). So untersucht auch Hugo Suter in solchen Werken Regeln. Er untersucht die Entfaltung von Regeln in Dingen, die sich gleichen, ohne gleich zu sein. Das unterscheidet ihn von einem Wissenschaftler, der seine Annahme in gleichen Ergebnissen verifiziert sieht. Hugo Suter ist Künstler, auch wo er sich  Verhaltensweisen eines Wissenschaftlers zu Eigen macht. Sein Ziel ist es nicht zu schauen, ob eine Annahme richtig oder aber falsch ist. Ein Werk der Kunst ist nicht richtig. Eine Partie Schach ist das auch nicht. Ein solches Werk ist. Es liegt an uns, die es wahrnehmen, ihm einen Sinn – als eine Wahrheit für uns – zu geben.

Welcher Art sind die Regeln, die Hugo Suter seinen Werken zu Grunde legt? Nun, die Ausstellung gibt zwei Antworten: Die vier großen Fotografien zeigen Papiertücher, die, mit einer schnellen Bewegung aus der Schachtel gezogen, eine bestimmte Form annehmen. Oder sagen wir genauer, die Papiertücher verwirklichen den in ihnen angelegten Form-Typ in Erscheinungen, die gerade nicht gleich sind. Dadurch werden sie uns in dem bewusst, was man die Bedingungen nennen kann, denen sie sich verdanken. In diesem Fall sind die Regeln vorgefunden. Sie liegen in der Art, wie die Papiertücher in der Schachtel ineinander gefaltet sind. Diese Formen entstehen, wenn wir ein Papiertuch aus der Schachtel ziehen und das nächste dabei nachziehen. Sie entstehen sofort und diese Eigenschaft ist in den Formen enthalten. Suter nennt die Fotografien bzw. das, was sie zeigen «Sofortskulpturen» und er hält sie in Polaroids fest, in Sofortfotografien also. Die Dinge und ihre Bilder teilen die Eigenschaft des «sofort». Und sie bestätigen sich gegenseitig in dieser Eigenschaft. Daraus entsteht der Sinn dieses Werkes erst.

Das Werk handelt nur auf den ersten Blick von einem Ready Made, auch wenn wir die einzelne Form so nennen können. Eine wirkliche Schachtel, aus der ein wirkliches Papiertuch heraussteht, würde nur zum x-ten Mal die Geste von Marcel Duchamp wiederholen. Es ist wichtig, dass dieser gewöhnliche Gegenstand als sein eigenes Bild vom täglichen Leben weggerückt ist. Dort würden wir ihn wegen seinem Zweck, nicht aber wegen seiner Form bemerken. Die Fotografie gibt ihm gewissermaßen eine Form.

An diesem Punkt erkennen wir einen entscheidenden Zug an dieser Kunst: sie stützt sich auf unsere Wahrnehmung im täglichen Leben und macht uns gewöhnliche Dinge als Grund von sinnlichen Erfahrungen bewusst, beispielsweise die morgendliche Kleenex–Schachtel. Können wir also sagen, dass sie die Dinge bzw. unsere Wahrnehmung poetisiert? dass wir in dieser neuen Wahrnehmung selber produktiv werden an anderen Dingen?

Auch die auf dem Boden aufgestellten Körper aus Beton sind Verwirklichungen eines Form–Typs. Ihre unterschiedlichen Erscheinungen entfalten die Regeln, die den Typ begründen, wie gespielte Partien die Regeln des Schachs. Sie stellen gewissermaßen 28 Partien dar, die mit diesen Regeln möglich sind (Warum gerade diese 28 Partien? Das ist eine andere Frage.). In diesem Werk sind die Regeln nicht gefunden wie im Fall der “Sofortskulpturen“. Es ist nicht ein unbekannter Erfinder, der sie festgelegt hat, sondern Hugo Suter:

Eine Spitzboden-Schubkarre  PERFECTA, ein Sack Mörtel EMACO SFR, 24 Kilogramm, mit galvanisierten Stahlfasern, frost– und salzbeständig, vier oder fünf Arbeitsgänge, die je einen Tag in Anspruch  nehmen für das Härten der Masse.

Ein solcher Körper entsteht, indem der Zementmörtel mehrmals in die Schubkarre gegossen wird, die in wechselnden Stellungen aufgestellt ist. Der Brei bildet horizontale Flächen, deren Form von der Mulde und – nach und nach – von den anderen Füllungen bestimmt wird. Die Flächen, die der Konsistenz des Breis entsprechend mehr oder weniger glatt sind, zeigen die Stellungen an, die die Schubkarre  nacheinander  eingenommen hat. So stellt die Form, welche der Körper schließlich aufweist, gewissermaßen die Bewegungen der Schubkarre dar oder die Bewegungen der Gussmasse in ihrer Mulde: als wäre ein Arbeiter damit mehrmals über den Bauplatz gefahren.

Wir können noch einen Schritt weitergehen und sagen, die Form verdingliche die Zeit, die ihre Herstellung in Anspruch genommen hat.

Nun entsteht ein Werk immer in der Zeit und das Bild, das wir uns machen, wenn wir es sehen, tut das auch: unsere Augen gehen von einer Stelle zur anderen und setzen es dabei gewissermaßen zusammen. Aber diese Zeit ist in den wenigsten Fällen das Thema des Werkes. Ein solcher Körper aus Zement aber tut genau das: er thematisiert die Zeit und damit das Machen und das Sehen, welches das Machen erschließt, gleichermaßen: «das eine im anderen».

Die Weise, wie die Füllungen aneinander stoßen, zeigt die Folge der Arbeitsgänge an. So gesehen können wir die Körper mit den Chronofotografien von Etienne-Jules Marey in Verbindung bringen, die menschliche Bewegungen in mehreren Phasen zeigen. Anders als auf gewöhnlichen Photographien hat dort die Zeit nicht stattgefunden, nein, sie findet statt, während wir diese Chronofotografien  betrachten. Das gilt gleichermaßen für diese Körper: dass die Zeit ihrer Herstellung in ihrer Erscheinung stattfindet.

An was wir die Zeit in dieser Weise sehen, ist ebenso belanglos wie die Bewegungen, die Marey fotografiert hat, solange wir nicht den Standpunkt des Physiologen einnehmen, der Dr. Marey war. Dennoch können wir sie nicht davon lösen, denn ohne das, was in einer bestimmten Zeit geschieht, würden wir die Zeit nicht sehen.

Die Form eines Körpers folgt nicht mechanisch aus den genannten Bedingungen. Die Stellung der Schubkarre ist bei jedem Arbeitsgang zu bestimmen. Aus den sich folgenden Entscheidungen des Künstlers entwickelt sich eine Form, die einerseits auf ihre Herstellung verweist, anderseits aber auf etwas anderes. Auf was? An diesem Punkt erkennen wir, dass wir es mit zwei Arten von Sehen zu tun haben. Im ersten Fall erkennen wir in den Körpern den «Grund der Form»: wir erkennen die Regeln, denen sich die Körper verdanken, gerade wegen der Unterschiede, die sie aufweisen, und wir bringen sie im Sehen auf Grund dieser Regeln ein zweites Mal hervor. Max Imdahl spricht in diesem Sinn von «produktivem Sehen».

Die Körper haben also eine Erscheinung, die mit den technischen Bedingungen ihrer Fabrikation zu beschreiben ist. Sie bilden aber auch Muster anschaulicher Kräfte, die mit diesen Bedingungen zu tun haben. An ihnen entwickelt sich eine zweite Art von Sehen. Sie führt von den Formen, die wir vor uns haben, zu Erfahrungen mit anderen Formen. Von reproduktivem Sehen zu sprechen wäre falsch, denn nicht die gemachten Erfahrungen sind gemeint, sondern was den Dingen, die wir sehen, und denen, die wir damals gesehen haben, gemeinsam ist. Und das ist dieses Muster.

So lassen die Körper aus Zement an eine andere Art von Bewegung denken als die der Schubkarre. Von der vertieften Mitte streben breitere und schmalere, abgerundete Flächen nach außen und nach oben, der Form der Mulde entsprechend. Hölzer halten die Körper in einer Stellung, die die Wirkung dieses Strebens unterstützen. Deswegen ist dieses Werk mit einem Feld verglichen worden, von dem graue Vögel auffliegen. Es gäbe andere Assoziationen, die aber mit solchen Vögeln das Muster einer sich entfaltenden Bewegung teilen.

Ich denke, dass Hugo Suters Werke immer wieder von diesen zwei Arten des Sehens handeln und davon, dass die eine die andere bedingt. In dieser Beziehung erst ist das Sehen objektiv und subjektiv gleichermaßen, an das Werk und seine Struktur ebenso gebunden wie an das «ich» mit der Struktur seiner Wahrnehmung.

Martin Steinmann