ALTE KUNST: GANDHĀRA
Ausgewählte Werke
Relief mit dem ringendem Siddhārtha
Gandhāra
Linearer Stil; 1. Jh. n.u.Z.
Schiefer
34 x 38 x 4 cm HBT
Erhaltungszustand: Zwei zusammengefügte Fragmente. Oberfläche etwas korrodiert, und rechts stärker beschädigt.
Das aus zwei Fragmenten zusammengefügte Relief muss sich ursprünglich auf beiden Seiten fortgesetzt haben.[1] Die Figur des Siddhārtha Sākyamuni bildet die Achse der Komposition. Ohne mit einem Nimbus versehen zu sein, ist er von mehreren Personen umgeben. Der Prinz wird von einem Gegner umfasst, den er mit seinem rechten Bein anhebt. Die Oberkörper der beiden sind unbekleidet, ihre Frisuren bestehen aus (den für Ringer typischen) Haarlöckchen sowie einer Stirnlocke. Der Ohrring im rechten Ohrläppchen des Gegners weist auf dessen hohen Rang hin, in diesem Fall ein Śākya, der hier ein Laṅghoṭī; (Hüfttuch) trägt, ebenfalls typisch für Ringer un[i]d Athleten. Der Bodhisattwa trägt ein Perlenhalsband, Ohrringe und dreiteilige Armreifen. Das Dhoṭī (Untergewand) fällt bis zu den Knöcheln herab, seine Brust ist unbekleidet. Darüber sind vier junge Männer sichtbar, welche die Szene beobachten; sie tragen Ohrringe, und ihr Haar zeigt Ponyfransen und Stirnlocken. Von links nach rechts betrachtet hat der erste seinen linken und seinen Mittelfinger zum Mund erhoben, während er mit der anderen Hand den Saum seines Gewandes hält.[2] Der dritte trägt eine Perlenkette, Armreifen wie die anderen und eine Laṅghoṭī; seine linke Hand liegt auf der Hüfte, während die rechte mit aufgerichteten Zeige- und Mittelfingern wie zur Argumentationsgeste erhoben ist. Der vierte trägt ein Uttarīya (Obergewand), das auf seiner linken Schulter sichtbar ist sowie Armreifen der gebräuchlichen Art.[3] Rechts unten ist eine Person mit nacktem Oberkörper, Ohrringen und der üblichen Frisur dargestellt, die aus einem Krug Wasser auf einen Ringer gießt. Letzterer liegt mit angewinkelten Beinen und ausgestreckten Armen auf seiner rechten Seite; der linke Ellbogen ist auf den Boden gestützt. Sein Kopf ist etwas vom Boden erhoben, was darauf hindeutet, dass er möglicherweise von einer weiteren Figur auf der rechten Seite, die nun verloren ist, gehalten wird. Links steht eine weitere, den Ringern zugewandte Figur. Sie trägt einen Turban sowie Ohrringe und hält mit ihrer linken Hand den Saum ihres Uttarīya hoch, während ihre rechte Hand erhoben ist. Auf der Oberseite des Stücks befinden sich zwei Zapfen.
Das Relief stellt Siddhārthas Ringkampf mit den fünfhundert Śākya-Jünglingen dar, bei dem es darum ging, seine zukünftige Frau Gopā / Yaśodharā / Gotamī, Tochter des Daṇḍapāṇi / Mahnāma, als Ehefrau zu gewinnen.[4] Die Legende wird in verschiedenen Texten umfassend erzählt: Lalitavistara,[5] Mahāvastu,[6] Abhiniṣkramaṇasūtra,[7] etc.
Auf Śuddhodanas Bitte an den Śākya Daṇḍapāṇ, seine Tochter Gopā dem Prinzen zur Frau zu geben, antwortete dieser, er sei dazu nicht bereit, da Siddhārtha weder die Künste beherrsche, noch den Elefantenritt, den Ringkampf, den Umgang mit Bogen und Schwert, etc. Śuddhodana setzte den Prinzen davon in Kenntnis, der nach dem Mahāvastu[8] antwortete: „Sei nicht verärgert, Vater, da eine Ankündigung in den Städten und Provinzen gemacht werden wird, dass der Prinz in sieben Tagen einen Wettkampf abhalten wird. Lass alle herbeikommen, die entweder in der Kenntnis der Künste, im Bogenschießen, Kämpfen, Boxen, Schneiden, Messerstechen, an Schnelligkeit, im Gebrauch ihrer Kräfte, im Umgang mit Elefanten, Pferden, Streitwagen, Bogen und Speeren oder im Argumentieren bewandert sind“. Derselbe Text berichtet,[9] dass sieben Tage später „fünfhundert junge Śākyas sich in der Arena versammelten, und Gopa […] eine Siegesflagge errichtete ankündigend, dass diese an denjenigen verliehen werden solle, der fähig sein würde, die höchste Leistung im Schwertkampf, Bogenschießen, im Umgang mit Elefanten und im Ringen zu zeigen“. Im Lalitavistara ist überliefert[10]: „All die fünfhundert jungen Śākyas traten vor, um mit ihm zu ringen. Zweiunddreißig junge Śākyas traten vor, bereit zu kämpfen. Dann traten Nanda und Ananda [zwei Śākyas] vor, aber, berührt durch die Hand Bodhisattwas, fielen sie zu Boden, unfähig seiner Macht und Kraft zu widerstehen. Dann griff Prinz Devadatta, Siddhārthas eifersüchtiger Cousin, eitel, stolz, mächtig, voller Heldenmut der Śākya, Bodhisattwa an. Bodhisattwa packte ihn mit Leichtigkeit mit seiner rechten Hand, schleuderte ihn zur Strafe drei Mal in der Luft herum, und dann, ohne auch nur irgendeine Feindseligkeit zu empfinden, warf ihn in einer gütigen Geste zu Boden, ohne seinen Körper zu verletzen. Dann sagte Bodhisattwa: „Genug hiervon. Lasst alle von Euch geschlossen antreten, um mit mir zu ringen.“ Dann fielen alle jungen Leute geeint über Bodhisattwa her; aber, sobald sie ihn berührten, konnten sie seiner Majestät, Kraft, seinem Heldenmut und seiner Entschlossenheit nicht standhalten, und durch ihn berührt fielen sie zu Boden.[11] Obwohl im Lalitavistara der Name des Ringrichters, der Siddhārthas Ringkampf beurteilte, nicht erwähnt wird, so enthält der Text doch Hinweise auf Schiedsrichter für das Schreiben und Rechnen und wahrscheinlich beurteilte Daṇḍapāṇi den Bogenwettstreit. Nach dem Abhiniṣkramaṇasūtra[12] wurden die Wettkämpfe von dem großen Minister Sahadeva beurteilt. In Bezug auf unser Relief denke ich, dass die auf der linken Seite stehende Person entweder der Ringrichter sein kann oder, was wahrscheinlicher ist, Śuddhodana, der sich nach dem Lalitavistara[13] aufmachte, die Wettkämpfe Siddhārthas zu beobachten, in Begleitung der Ältesten der Śākyas.
In der Kunst von Gandhāra erscheint die Ringkampfszene sehr oft auf Reliefs des „naturalistischen Stils“, entweder einzeln, vor oder nach anderen Szenen, wobei nicht immer der in den Texten genannten Ordnung der Erzählungen gefolgt wird. Wir können diese Reliefs in zwei Kategorien unterteilen: zum einen in die, bei denen – im Unterschied zu unserem Relief – die am Boden liegende Figur fehlt,[14] zum anderen in die Gruppe von acht Reliefs, alle aus Swat, von denen nur zwei im „linearen Stil“ ausgeführt sind.[15] Das erste, ein Schieferfragment, zeigt den besiegten Ringer als kniende, kauernde Figur, vornübergebeugt und nach links gewandt, sowie Überreste einer stehenden Figur. Das zweite besteht aus drei Fragmenten und zeigt unten einen auf dem Boden liegenden Ringer, dessen Beine seitwärts nach rechts erhoben sind. Der linke der beiden Mitstreiter, die darüberstehen, gießt Wasser aus einem Krug über den Körper des gefallenen Athleten. Beide Stücke sind nur fragmentarisch erhalten, sodass eine Aussage über eventuell ursprünglich noch vorhandene andere Figuren unmöglich ist.
Diese beiden im „linearen Stil“ des 1. Jh. n.u.Z. ausgeführten Reliefs sind die einzigen Beispiele, die eine gewisse stilistische Ähnlichkeit mit dem hier besprochenen Objekt aufweisen, das jedoch ikonographisch vollständiger ist und daher als einzigartig angesehen werden kann. Schließlich zeigt es auch, zusammen mit den beiden anderen, dass die Szene des ringenden Siddhārtha von den frühesten Anfängen an in der Kunst von Gandhāra heimisch war, wobei die Künstler des Swat die einzigen waren, die eine Vorliebe für den besiegten, am Boden liegenden Ringer zeigen und den Versuch, diesen mit Wassergüssen über die Runden zu bringen.
Anna-Maria Quagliotti, 2009
[1] Der folgende Text ist eine Kurzversion meiner schon publizierten Untersuchung des Stückes (Quagliotti 2005, 904 – 905).
[2] Die erste Geste bedeutet Überraschung, die zweite Freude. In der Kunst von Gandhāra findet sich diese Ikonographie z. B. auf dem berühmten Relief Nr. 49.9 in der Freer Gallery of Art, Washington (vgl. Lippe 1970, 15 – 16, Abb. 8), das die Geburt des Siddhārtha zeigt. Auf diesem Relief wedelt die ganz links stehende Figur jubelnd mit ihrem Obergewand und berührt gleichzeitig die Unterlippe mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand.
[3] Hier wiederum auf seinen hohen Rang hinweisend.
[4] Die Namen variieren in den verschiedenen Texten.
[5] Vgl. Foucaux 1884, 128 – 129
[6] Vgl. Jones 1952, 70 – 72.
[7] Vgl. Beal 1985, 84.
[8] Vgl. Jones 1952, 71 – 72.
[9] Vgl. Foucaux 1884, 128 – 129; Mitra 1998, 187 – 188.
[10] Foucaux, 138 – 139); Mitra 1998, 194 – 195.
[11] Es folgt die Episode des Bogenschießens. Die Aufzählung endet mit einer langen Liste der Künste, die Siddhārtha beherrschte. Im Falle der Wettkampf- oder „Kriegs“-Künste ergibt sich die folgende Reihe: Ringkampf, Bogenschießen, Schnellmarsch, Springen, Gebrauch von Pfeilen, Reiten auf dem Hals eines Elefanten, auf dem Rücken eines Pferdes und Wagenfahren, Bogenkampf, Ringkampf, Gebrauch von Stacheln und der Schlinge
[12] Vgl. Beal 1985, 88 – 92.
[13] Vgl. Foucaux 1884, 131; Mitra 1998, 189.
[14] Wir verweisen dazu auf die folgenden Beispiele: Im „naturalistischen Stil“: a) Ringkampf zusammen mit anderen Szenen: I – Musée Guimet, Nr. MG OA 2947, aus Swāt, erste Szene von rechts (Foucher 1905, 333 – 334; Taddei 1964 – 1965, 175, Nr. 3; Kurita 1988, Abb. 104). Hier erscheint eine sitzende Figur mit erhobener rechter Hand links von den beiden Ringern. Nach Foucher (ebd., 333) könnte es sich hierbei um den Ringrichter handeln, entweder Śuddhodana oder den Brautvater. II – Madras, Government Museum, zweite Szene von rechts (Foucher 1905, 333 – 334, Abb. 171; Taddei 1964 – 1965, 171, Nr. 1). Hier erhebt die stehende Figur am rechten Bildrand ihre rechte Hand in der Geste des Erstaunens zum Mund. III – Lahore Museum, Nr. 2031/G.1249, aus Sikri (Ingholt 1957, 56, Tf. 29; Taddei 1964 – 1965, 175, Nr. 5), unteres Register, zweite Szene von rechts. Die zweite Szene stellt die Episode des Tauziehens dar, die in den Texten nicht beschrieben wird. IV – Peshawar Museum, Nr. 1906, aus Malakand (Taddei 1964–1965, 175, Nr. 6). V – Government Museum and Art Gallery, Chandigarh, Nr. 1599 (Paul 1986, 95). VI – Victoria and Albert Museum, London, Nr. I.M.78–1939 (Ackermann 1975, 65–66, Tf. XII.a), unteres Register. Die erste Szene von rechts kombiniert den Ringkampf mit dem folgenden Wettstreit im Bogenschießen. VII – Fries aus Chatpat, Reg.-Nr. 116 (Faccenna 2001, 56 – 57, Tf. 140.c). VIII – Relief in einer japanischen Privatsammlung (Kurita 1988, Abb. 98), dritte (fragmentarische) Szene von rechts. Hier sitzt eine Figur in „nachdenklicher“ Haltung zur Linken der Ringer. IX – Privatsammlung Japan (Kurita 1988, Abb. 85), dritte Szene (fragmentarisch) von rechts. X – Privatsammlung, Japan (Kurita 1988, Abb. 91), zentrale Szene. XI – Swāt Museum, Saidu Sharif, aus Malakand (Swāt), Nr. MK 10, zweite Szene von rechts (Faccenna 2001, 154, Tf. 140.a). b) Isolierte Ringkampfszenen: 1 – Fragment aus Ranigat (Nishikawa 1994, Tf. 124.18). 2 – Indian Museum, Kolkata, Nr. G.82, aus Jamal Garhi (Nehru 1989, 60 – 61, n. 1, Tf. 21). Hier bilden die beiden Ringer zwischen zwei stehenden Figuren die Achse der Komposition. Die Figur auf der rechten Seite hält einen Schirm über einen der drei als Büste dargestellten Personen im Hintergrund (den ersten auf der rechten Seite), der den Saum seines Uttarīya in die Luft wirft. Er trägt Ohrringe. Da er unter dem Ehrenschirm dargestellt ist, könnte es sich um Śuddhodana handeln. Die Figur im Zentrum, zu seiner Rechten (zwischen den Ringern), trägt einen Turban und könnte der Ringrichter sein.
[15] Das erste stammt aus Ranigat, vgl. Nishikawa 1994, Tf. 134.7. Das zweite wurde von Taddei, 1964 – 1965, 174 – 176, veröffentlicht. Das dritte, vierte und fünfte stammt aus Butkara I. Sie befinden sich jetzt im Museo Nazionale d’Arte Orientale in Rom, Nr. 3982, 4100, 4532 (MAI S. 7743, vgl. Taddei 1964 – 1965, 174–176, Abb. 1–4. Die übrigen drei stammen aus Saidu Sharif. Dabei handelt es sich um die folgenden Stücke: Museo Nazionale d’Arte Orientale, Nr. 4178 (Saidu Sharif I, No. MAI S 800), und im selben Museum Nr. 2316 (Saidu Sharif I, Nr. MAI S 55); Swāt Museum, Nr. MAI S 1124 (Faccenna 2001, Tf. 49). Diese beiden sind die einzigen, die im „linearen Stil“ ausgeführt wurden.
Katalog _ Museum DKM: Linien stiller Schönheit, 70 – 73. Gandhāra, 36 – 39, Kat-Nr. 1.