The Flow of Water
30.06.2003 – 13.10.2003
WELT ALS WANDERUNG
Hamish Fulton wandert. Wandern ist Teil seiner Kunst. Wandern ist seine Kunstgattung. Wandern ist für ihn so Kunst, wie das Malen für einen Maler die Kunsttechnik ist, um seine Ideen zur Anschauung zu bringen. Wandern ist mithin seine Voraussetzung für seine Kunstproduktion.
Lange sollten wir schon darüber hinweg sein, einen Maler als Künstler zu akzeptieren, nur weil er vermeintlich gut malt. Dieses Können ist lediglich die Bedingung, ohne die nichts geht. Mehr nicht! Denn das Qualitätskriterium für das, was „gute Malerei“ ist, gründet nicht mehr gleichsam in einer kanonisierten Kennerschaft des Urteilenden, sondern unter dem Horizont unserer Zeit in einer je spezifischen Form-Inhalt-Dialektik zwischen Zur-Anschauung-bringendem-Interesse und dem Zur-Anschauung-Gebrachten. Hier scheidet sich bloße Malerei und Kunst – und hier scheidet sich bloßes Wandern und Wandern als Kunst.
In Robert Fillious Jahrhundertwerkidee „bien fait – mal fait – pas fait“ wird das Behauptete so deutlich auf den Punkt gebracht, wie es nur auf den Punkt zu bringen ist. Denn mit Filliou kann auch das Nicht-Gemachte gut gemacht sein. Evident mithin muß in der Kunst unserer Zeit sein, was zum Ausdruck, zur Anschauung gelangen soll. Mit Blick auf das nicht Gemachte kann dies selbstredend nur bedeuten, daß es so als Zur-Anschauung-zu-Bringendes, als Anzuschauendes, als zu Reflektierendes, als zu Erkennendes deutlich wird, daß es eben als Nicht-Gemachtes wahrzunehmen ist.
Wie nun – vorausgesetzt, es geht ihm (auch) darum – gibt uns Hamish Fulton wahrzunehmen, was er als Wanderer auf seiner 2838 Kilometer langen Tour von der Mündung des Nervion in Bilbao über eine der Rheinquellen am Schweizer Thomasee, entlang des Rheins über Remagen und Duisburg bis hin zur Mündung des Rheins in Hoek van Holland für bemerkenswert, für kommunikationswürdig, für erkennensnotwendig,… hält? Und dies in der Tradition von Erlebnisschilderern wie Petrarca, Goethe, Novalis, Gregorovius, Turner, Thomas Jones, Georg Forster, Alexander von Humboldt…
Die Antwort ist einfach – und darin liegt das Komplexe: So emotionslos, so rational, so pur, so klar, so einfach, so faktisch kurz wie nur eben möglich! Nichts von seinen Erlebnissen wird ahnbar, nichts von seinen Gefühlen restimmuliert. Kein Eindruck wird zu einem Moment der Assoziation, kein Vorfall erinnert. Über Blasen an den Füssen wird nicht lamentiert, keine Begegnung geschildert. Nichts! Nichts Privates, nichts Eigenes und nichts Subjektives. Nur Daten treten auf und bisweilen ein Zeichen oder ein Symbol.
Und doch, da ist etwas Präsentes. Denn mit James Wards Gemälde der „Gordale Scar“, das für das frühe 19.Jahrhundert mit über drei auf vier Metern riesig war und den Menschen auch motivisch klein erscheinen lässt, nehmen es vor allem Fultons Wandarbeiten sehr wohl auf. Nur wenden sich seine Arbeiten nicht primär an das sinnliche Erleben, sondern an ein geistiges Sich-in-sie-hinein-Versetzen. Appellativ scheint das imperative „Wandere!“ auf und gleichsam memorierend auch ein „Ich bin schon gewandert!“.
Was bedeutet das? Es mag einfach klingen, doch es gehört wohl immer wieder erinnert und wiederholt: Auf 2838 Kilometern, ja, schon beim Ersten Schritt, hat jeder eine je genuin eigene Erfahrung, die nicht identisch und nur kaum zu vergleichen ist mit der jeweiligen eines Anderen. Um zu erfahren, was während einer Wanderung zu erfahren ist, muss folglich gewandert werden, beziehungsweise gewandert worden sein. Denn Wandarbeiten wie die in Duisburg geben auch Anlass, den Wanderungen Hamish Fultons zu gedenken – zu gedenken wie es Tafeln vermögen, auf denen zu lesen ist, dass Gogol hier wohnte, Lord Byron in diesem Hause schrieb und Savonarola an dieser Stelle hingerichtet wurde.
Aber die Wandarbeit von Hamish Fulton erschöpft sich nicht im Gedenken. Sie enthält noch weit mehr als das bloß Imperative und das bloß Memorierende. Schon ihre Erscheinungsform verdeutlicht dies. Denn sie ist nicht nur präsent, sie beansprucht auch Präsenz – Gegenwart, Vergegenwärtigung und daraus folgend das Bewusstsein des Vergegenwärtigens in der jeweiligen Gegenwart. Und wer wollte bestreiten, dass dies so jeweilig unvergleichbar ist von Betrachter zu Betrachter, wie die je unvergleichbare Erfahrung beim Ersten Schritt einer Wanderung?!
Das Sinnieren über die Kunstgattung Wandern bringt also auch zum Aufscheinen, daß diese verwandt ist dem Wahrnehmen der Wandarbeiten, die die Werk gewordenen Resultate des Wanderns Fultons sind. Der Betrachter seiner Werke ist so gesehen genauso auf sich selbst zurück geworfen wie der Wanderer. Und über zu Erfahrendes im Zurückgeworfen-Sein Aussagen zu treffen oder Bilder zu erfinden, das wäre offenbar , überblicken wir das Gesamtwerk Fultons, für ihn anmaßend. Für ihn ist das Subjektive jeweilig das, was es ist – und es ist für ihn offensichtlich privat und so vor der Öffentlichkeit zu schützen. Es ist mithin in seinem Wesen des Geheimen, des zu Behütenden und nicht zu Vermittelnden zu belassen. Dieses Subjektive aber für jeden als Subjektives und als Unvermittelbares aufscheinen zu lassen, das erwirken die Wandarbeiten Fultons.
Hamish Fultons temporäres Werk in der Stiftung DKM in Duisburg und auch das, das er auf Dauer für das ARP MUSEUM nahe des Bahnhofs Rolandseck in den Leinpfad einlassen wird, ist so gesehen – eben doch, oder zumindest: doch auch – ein Bild. Denn ein gutes Bild löst je genuine Erfahrungen bei jedem Betrachter. Und, es steht in einer fast vergessenen Tradition von Zeitidentität. Der Betrachter oder der Leser soll gleich der Produktionszeit oder gleich lang dem Geschilderten das Werk wahrnehmen. Ein Buch so lange zu lesen, wie es geschrieben wurde, forderte Musil. Nur so könne der enthaltene Assoziations- und Gedankenreichtum entborgen werden. Oder, die vierzehn Stationen des Kreuzwegs so lange zu betrachten und auch zu gehen, wie Christus gelitten hat.
2838 Kilometer. Sieben Schritte sind bei Fulton ca. 6,36 Meter (die Länge seiner Arbeit SEVEN STEPS für Remagen Rolandseck). Ungefähr 3 Millionen Schritte mithin ist er in den 63 Tagen zwischen dem 11. September 2002 und dem 13. November 2002 gewandert. Über 47 Kilometer täglich bei 2 Tagen Pause. Er verband die Mündung des Nervion in den Atlantik mit der des Rheins in die Nordsee – zwei eigentlich beziehungslos zueinander stehende Flussmündungen. Er verband so auch das Guggenheim-Museum in Bilbao mit dem Boymans van Beuningen in Rotterdam – und all die, die am Wege sind. Er setzt die Rheinquelle des Thomasees auf die dritte Ecke seiner kartografischen Triangulation. Er verknüpft Spanien und die Niederlande und stellt die Schweiz, Frankreich und Deutschland in die Mitte. Er stellt seinen Wanderweg gleichberechtigt neben den Rheinverlauf ins Bild… Er wandert von Küste zu Küste – und dies eben nicht einem Schiff gleich das Meer als verbindendes Element nutzend…
Hamish Fulton wandert, eben wie ein Maler malt. Und seine Werke über seine Wanderungen sind immer Werke über seine Wanderungen und Werke, die alle Eigenheiten vom Wandern in sich bergen. Diese zu entbergen ist nur möglich im ständig präsenten Oszillieren zwischen dem Imperativ zu wandern und der Memorierung, gewandert zu sein – und dies zeitidentisch zwischen Wanderung und Erinnerung. Darin, in diesen geborgenen Geheimnissen, liegt ihre Präsenz.
Raimund Stecker